Trauerrede unserer Vorsitzenden Dr. Annette Esser zur Beisetzung am 20.Juni 2025 unseres langjährigen aktiven Mitglieds Dr. Eveline Waterboer:
WIE die Stimme Gottes mit dem Klang des ‚tönenden Wortes‘ alles zum Leben erweckt hat, so ist dieser Klang in jedem Geschöpf das Leben und macht lebendig.
Diese Worte stammen aus dem Liber Divinorum Operum, aus dem Buch der Werke Gottes, von Hildegard von Bingen; und sie stehen am Ende der Dissertation von Eveline Waterboer, die sie 2018 im Alter von 74 Jahren verfasst hat.
Eveline ist dann 81 Jahre alt geworden. Geboren am 28. Februar 1944 in Duisburg hat sie eine Kindheit zwischen Deutschland und den Niederlanden verbracht. Nach dem ersten Studium hat sie seit 1966 viele Jahre als Lehrerin an Hauptschulen unterrichtet (Evangelische Religion, Deutsch, Mathematik, Sport) und dabei mit ihrem Mann zwei Kinder großgezogen. Mit 45 Jahren nahm sie 1989 ein zweites Studium der evangelischen Theologie auf, eigentlich um damit ins Lehramt ans Gymnasium wechseln zu können. Aus formalen Gründen ging dies aber nicht und sie wurde stattdessen mit 58 Jahren (2002) in den Ruhestand versetzt. In gewisser Weise machte sie in dieser Situation dann aber aus der Not eine Tugend. Sie studierte und arbeitete weiter an der Uni Duisburg-Essen nahm dabei viele Lehraufträge wahr und hielt Vortrage in Gemeinden (Themen: Hildegard von Bingen, Frauenmystik, Weisheit, Hexen, Engel). Diese Arbeit, auch besonders mit studierenden jungen Menschen, hat ihr große Freude gemacht. Ihre Promotion von 2018 im Fach Evangelische Theologie hatte dann den Titel: „‚Als das Wort Gottes erklang‘. Zur theologischen Bedeutung des Klangs bei Hildegard von Bingen“. Diese Arbeit wurde 2020 im Fromm-Verlag Saarbrücken veröffentlicht.
Die Beschäftigung mit Hildegard von Bingen, verbindet mich mit Eveline. Dazu gehört auch, dass für uns beide als Theologinnen Hildegard nicht einfach eine ‚Kräutertante‘ war (wie Eveline es ausgedrückt hat), So haben wir beide (auch 2017), gemeinsam einen Text für die Broschüre zum Hildegard von Bingen Pilgerwanderweg (Broschüre der Naheland-Touristik) verfasst, in dem wir einmal kurz zusammengefasst haben, wer diese Heilige und Kirchenlehrerin war:
„Hildegard von Bingen wurde schon zu ihren Lebzeiten durch ihre Visionen bekannt, die sie dann in drei Büchern zusammenstellte: dem Liber Scivias, dem Liber Liber Vitae Meritorum und dem Liber Divinorum Operum. Berühmt als die deutsche Prohetin (Prophetissa Teutonica), sah sie sich selbst als die Posaune Gottes, die auch dazu berufen war die sozialen und politischen Missstände ihrer Zeit anzuprangern. So ermahnte sie nicht nur Nonnen und Mönche, sondern auch Päpste und Kaiser. Hildegard war eine sehende Hörerin und eine hörende Seherin. Ihre Visionen waren zugleich Auditionen, in denen sie die Stimme Gottes vernahm, die Musik der Engel hörte und Einblick in das göttliche Geheimnis gewann: die Position des Menschen im Kosmos und die Geschichte Gottes mit den Menschen – von der Schöpfung, zur Menschwerdung bis zum Jüngsten Gericht.“
Dr. Eveline Waterboer / Dr Annette Esser 2017
In meiner Traueransprache möchte ich nun ganz persönlich über Eveline über meine Begegnung und auch über mein letztes Gespräch mit ihr berichten: So habe ich Eveline 2012 auf der ersten Internationalen Hildegard-Tagung in Bingen kennengelernt, die ich dort mit dem Scivias-Institut anlässlich ihrer Erhebung zur Kirchenlehrerin organisiert hatte. Eindrücklich in Erinnerung geblieben ist mir, dass Eveline unbedingt mit mir sprechen wollte. Da ich aber in all dem Getriebe wenig Zeit hatte, sagte sie nur kurz diesen einen Satz zu mir: „Ich bin wie du!“ – Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Tatsächlich war Eveline mit ihrer Biografie mir ähnlich: beide haben wir lange Jahre als Lehrerin und Mutter an der Schule gearbeitet und dann spät noch eine Doktorarbeit im Fach Theologie geschrieben. Ihr Thema war: „Als das Wort Gottes erklang. Die theologische Bedeutung des Klangs bei „Hildegard von Bingen“ und (wie wir eben schon in ihrer Vita gehört haben), hat sie sich mit dieser Arbeit 2017, also im Alter von 73 Jahren, im Fach Evangelische Theologie an der Universität Duisburg-Essen promoviert.
Kurz zuvor, d.h. seit der zweiten Internationalen Hildegard-Tagung zum Thema „Viriditas“, hat sich Eveline dann seit 2016 aktiv im Scivias-Institut engagiert. In wechselnden Funktionen war sie im Vorstand als stellvertretende Vorsitzende und als Schatzmeisterin aktiv. Unvergessen ist mir, und dankbar bin ich ihr dafür, dass sie in dieser Zeit dreimal für je eine Woche ins Scivias-Institut nach Bad Kreuznach gekommen ist, um mit mir das Scivias Office mit allen Papieren… zu sichten, aufzuräumen und neu zu ordnen. Das war eine riesige Hilfe. Und noch 2022 als ihre Krankheit sie zunehmend behindert hat, hat sie mit uns die erste Internationale Hildegard-Woche organisiert. Für sie selbst war dabei ein Höhepunkt, dass sie das Thema ihrer Dissertation in englischer Sprache vortragen konnte. „The Sound of Creation“ – dieser englische Titel hat ihr gefallen. Solange sie noch irgendwie konnte, hat Eveline dann weiter an all unseren Meetings teilgenommen und ich habe sie noch oft in Heidelberg besucht. Dorthin war sie 2017 mit ihrem Mann gezogen, um in der Nähe ihrer Kinder leben zu können. Wir hatten alle gehofft, dass das noch viele Jahre so weiter gehen könnte, aber ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend, und 2024 mussten sie und ihr Mann ins Pflegeheim. Eveline war darüber nicht einfach nur wegen ihrer eigenen körperlichen Verfassung bedrückt.
Als Kollegin und Freundin schien es mir, dass Eveline, bei der es gesundheitlich nur noch bergab zu gehen schien, einfach nicht loslassen konnte, bevor sie noch ihr Vermächtnis weitergegeben konnte: sie wollte eigentlich noch ein letztes Buch schreiben, um möglichst noch vielen Menschen in einfacher Sprache mitteilen zu können, worum es ihr bei Hildegard ging: dieses kosmische Denken, der Mensch in Kosmos und der Klang der Schöpfung… Da sie dazu aber aller Voraussicht nach nicht mehr würde kommen können, kam ich auf die Idee ein Interview mit ihr zu führen, in dem ich genau darüber mit ihr sprechen wollte und das ich aufnehmen und transkribieren wollte. So fuhr ich kurz vor Weihnachten, am 20. Dezember 2024 zu ihr ins Pflegeheim und hatte diese drei Fragen mitgebracht:
- Was hat dich zu Hildegard von Bingen gebracht?
- Was ist das Wichtigste an deiner Doktorarbeit?
- Was möchtest du eigentlich jetzt noch sagen oder was wolltest du in deinem letzten Buch jetzt noch schreiben?
Zu (1) Zur ersten Frage hat Eveline dann erzählt, wie sie in einem theologischen Seminar fast ‚zufällig‘ zu Hildegard von Bingen gekommen ist, da nämlich niemand der anderen Studierenden das Thema übernehmen wollte. Evelines Referat über das „Weltbild“ Hildegards, hat dann bei ihr einen Stein ins Rollen gebracht.
Auf meine Frage, was für sie am Anfang wichtig war, hat sie geantwortet: „Am Anfang war es das kosmologische Weltbild und der Kosmosmensch. Das ist auch eins meiner Lieblingsbilder. Das hat mich fasziniert: vor allem diese Vernetzung der Welt, die sie damit dargestellt hat.“
Und auf die Frage, wie sie von da auf das Thema ihrer Dissertation gekommen ist, hat Eveline gesagt, dass auch das sich „letztlich zufälligerweise ereignet“ hat, und zwar, so Eveline weiter „im Zusammenhang mit dem Johannesprolog. Da wird das Thema ‘Klang’ angesprochen. Das ist die Stimme Gottes, die dann die Schöpfung bewirkt hat. Der Johannesprolog hat mich total fasziniert. Also die Ausführungen von Hildegard fand ich so faszinierend, dass ich dann auf das Thema ‘Sonus’ gekommen bin. Dann habe ich gemerkt – natürlich auch nachgesehen – dass es diesen Begriff in den Visionsschriften überall gibt.
Zu (2) Meine zweite Frage nach dem wichtigsten in ihrer Doktorarbeit hat Eveline dann so beantwortet: „Das Wichtigste war die Erkenntnis von Hildegard, dass im Grunde genommen das Wort, das ja normalerweise im Prolog am Anfang steht, dass das Wort nicht einfach ein Begriff ist mit Bedeutung, sondern ein Prozess. Das Wort beginnt letztlich mit dem Wahrnehmen. (…) Es beginnt mit der Wahrnehmung, dann mit der Mitteilung, der Übertragung und dann mit dem Verstehen. (…) Das heißt also, das Wort ist ein Prozess, ist immer ein Prozess. Das hat mich total fasziniert, weil ich mir gesagt habe, das ist also tatsächlich die Beobachtung des Lebens. Das Leben bleibt nicht bei einer Bedeutung, bei einer Wortbedeutung stecken, sondern beinhaltet immer sehr viel mehr. (…) Die Musik ist für mich (…) Sprache Gottes in der Form des Musikalischen.“
In diesem Zusammenhang verwies mich Eveline auf ihren Aufsatz „Der Klang als Vernunft der Seele“, und kam dann zu dem, was ihr letztes wichtiges Thema war: „Was ich jetzt so faszinierend finde, ist, dass es bei Hildegard sowohl eine Ausprägung der Rationalität gibt (…) Und diese Rationalität aber beinhaltet gleichzeitig auch eine gewisse Emotionalität. Das ist ja das, was mit der Wahrnehmung zu tun hat. Also sagen wir mal, was mich eben halt fasziniert hat, dass Hildegard den Menschen nicht auseinander dividiert in Ratio und Emotion, sondern, dass sie (…) wirklich auch nicht nur im Weltbild diese Vernetzung sieht, sondern auch in dem Menschen selbst. Nämlich diese Vernetzung von Rationalität und Emotionalität.“
Zu (3) Evelines Antwort auf meine dritte Frage nach dem, was sie jetzt noch in ihrem neuen Buch sagen möchte, hat mich erstaunt, und zwar deswegen, weil ich selbst erwartet hatte, dass sie noch etwas Neues schreiben wollte. Aber darum ging es ihr nicht.
Sie sagte: Im Grunde genommen (…) wollte ich jetzt eigentlich schon, diese ganzen Aspekte, die ich so bei Hildegard wahrgenommen habe, als Einheit, als große Einheit (…) noch darstellen, zusammenfügen und dann eben halt darstellen. (…) mit der Rationalität und mit der Emotionalität, mit der Sprache, mit der Bildhaftigkeit (…) Hildegard ist ja wirklich in ihren Ausdrucksformen sehr vielseitig. Und diese unterschiedlichen Ausdrucksformen dann so zusammenzuführen und zu einer Einheit zu bringen. Das war eigentlich das, was ich gerne machen wollte. (…) also dann jetzt als ‚meine Hildegard‘: Mein Werk, meine Hildegard: das sollte dann in diesem Buch zusammenkommen. (…) dass ich also auch dann wiederum eine Form finde, eine Sprache finde, die (…) diejenigen, die sich eventuell interessieren werden, anspricht. Und (…) dass das etwas sein muss etwas, was bildlich ist und dann die Folien als Bilder enthält, die auch Farben haben, die Merksätze auch als Merksätze im Rahmen dargestellt. Also sagen wir mal, es soll dann optisch ansprechend sein und damit die Leute vielleicht dazu bewegen, sich dafür zu interessieren. So war so die Idee.
An diesem Punkt habe ich Eveline an ihre Vorträge und Vorlesungen erinnert, in denen sie den Menschen Hildegard zwar nicht bloß akademisch etwas nahebringen wollte, sondern in denen sie diese auch mit ihrem Lächeln erfreut hat und ihnen auch immer etwas Kleines mitgegeben hat, wie eine selbst gestaltete Karte, ein Bild oder kleine Engel aus Knete… Dass Eveline beides ist, nämlich eine rationale Frau und eine emotionale Frau ist, dem hat sie dann zugestimmt.
Ganz am Ende des Interviews habe ich Eveline dann gesagt, dass das, was sie selbst nicht mehr machen und schreiben kann, nun andere für sie machen müssen. Das ist auch ein Versprechen gewesen!
Als ich dann mit meinem Partner Volkhard am 25. Mai in der Seniorenresidenz im Haus Altera war, und wir von Evelines Tod zwei Tage zuvor erfahren haben, waren wir sehr betroffen. Noch vor Ort schreibe ich an ‚meine Leute‘ im Scivias-Institut: „Sie war eine gute Seele. Und ich glaube, dass sie jetzt mit den Engeln im Himmel singen kann.“
Und das ist es auch, was ich hier am Ende meiner Trauerrede uns allen mitgeben möchte. In Hildegards Worten gesprochen: „Darauf sah ich ein ganz lichtdurchstrahltes Gewölk. In ihm hörte ich auf wunderbare Weise in allen erwähnten Sinnbildern alle Arten von Musik…“ (Hildegard von Bingen).
Zu diesem Zitat, das sich am Ende des Hildegardwegs auf der letzten Meditationstafel am Ruheforst Waldalgesheim findet, gibt es auch eine Pilgerfrage, die ich nun an uns alle stellen möchte: „Kann ich mir vorstellen, dass wir Menschen mit den Chören der Seligen und den Chören der Engel im Himmel gemeinsam singen?“
Darüber können wir nun nachdenken, während wir Ute Kreidler zuhören, die für uns das Hildegard-Lied „O quam mirabilis – O wie wunderbar“ singt.